Scheindemokratie

Wir haben in Deutschland eine sogenannte repräsentative Demokratie. Dies bedeutet, dass aus der Menge der Bürger gewählte Personen die Interessen ihrer Wähler im Gesetzgebungsverfahren vertreten. Sollte man meinen.

Es gibt viele Hinweise darauf, dass dies leider nicht der Fall ist. Zum Einen hat der Bürger kaum die Möglichkeit, seinen Willen gegenüber dem gewählten Abgeordneten zu artikulieren. Sie müssen arbeiten, Kinder erziehen, wollen sich ihren Hobbies widmen und sorgen sich ganz allgemein darum, wie sie im nächsten Monat alle Rechnungen bezahlen sollen. (Große) Unternehmen haben es da etwas einfacher: Sie bezahlen Leute, deren Job es ist 8 bis 10 Stunden täglich auf Politiker einzuwirken, damit diese das tun, was die Unternehmen wollen.

Dann gibt es den sogenannten Fraktionszwang. Auch wenn sie sie kennen sollten - die gewählten Volksvertreter dürfen gar nicht die Interessen ihrer Wähler vertreten, sondern müssen die Interessen Ihrer Partei vertreten. Tun sie das nicht, werden sie bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt: Friss oder stirb! Wer sich nicht willfährig verhält, wird rausgeworfen. Da ist den meisten Politikern die Geldbörse und das Einkommen näher als die Interessen ihrer Wähler.

Kürzlich bin ich auf einen weiteren Aspekt gestoßen, der wohl so unglaublich ist, dass niemand darüber spricht: Die wichtigste Aufgabe der Abgeordneten, das Abstimmen über Gesetze, wird marginalisiert und zum lästigen Beiwerk degradiert. Wir alle erinnern uns an die bizarre Abstimmung über das Meldegesetz, das es Adresshändlern erlauben sollte, Meldedaten von den Gemeinden zu kaufen, ohne dass Letztere dafür die Einwilligung der betroffenen Bürger einholen müssen. Knapp 30 Abgeordnete stimmten darüber ab und im Ergebnis dafür. Die anderen guckten wohl Fussball, man muss ja Prioritäten setzen ...

Wie konnte das möglich sein? Wir kennen das aus allen möglichen Satzungen von Vereinen, Unternehmen, Stiftungen etc. dass eine Mindestzahl von Angehörigen der Organisation anwesend sein muss, damit eine Abstimmung möglich und gültig ist. Das ist auch beim Bundestag so - auf den ersten Blick. Im §45 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags steht im Absatz (1):

Der Bundestag ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist.

Das klingt ja schon mal gut und ziemlich eindeutig. Aber dann gibt es da ja noch den Absatz (2):

Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlußfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder wird die Beschlußfähigkeit vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt, so ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählung der Stimmen nach §51, im Laufe einer Kernzeit-Debatte im Verfahren nach §52 festzustellen. Der Präsident kann die Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen.

Es ist nicht die Tatsache relevant, dass z.B. nur 30 von derzeit 620 gewählten Abgeordneten anwesend sind, und damit der Bundestag gemäß §45 (1) der Geschäftsordnung nicht beschlussfähig ist, sondern das muss jemand ausdrücklich sagen. Und da reicht nicht einer der die Augen aufmacht und bemerkt, dass nur so Wenige da sind, nein, nur Fraktionen oder - fraktionsübergreifend - mindestens 5% der (noch) Anwesenden müssen sich zusammensetzen, ein Votum vereinbaren, und damit zum amtierenden Sitzungsleiter marschieren mit der Aufforderung, dieser möge doch die Beschlussfähigkeit des Bundestags überprüfen. Es verwundert da nicht, dass zwischen 1990 und 2009 (bis dahin sind statistische Daten veröffentlicht) nur 9 (!) mal die Feststellung der Beschlussunfähigkeit des Bundestags gefordert worden ist, also so ungefähr einmal alle 2 Jahre, oder etwa 2mal je Legislaturperiode.

Ich konnte es irgendwo lesen, dass es üblich sei, die Anzahl der anwesenden Abgeordneten einfach zu ignorieren, und abzustimmen. Das machte mich neugierig: Ich wollte wissen, wie häufig denn weniger als 50% der Abgeordneten über ein Gesetz beschließen. Da erlebte ich die nächste Überraschung, denn das weiß niemand.

Je Legislaturperiode werden um die 500 Gesetze beschlossen, +/- etwa 100. Wieviele Abgeordnete bei den Abstimmungen anwesend sind, wird nur festgehalten, wenn eine Fraktion oder eine Gruppe von 5% der bei der Abstimmung anwesenden Abgeordneten (§52 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags) eine namentliche Abstimmung beantragt. Und dies passiert nur in etwas mehr als 1/4 (genau 28,1% zwischen 1990 und 2009) der Abstimmungen über Gesetze. Bei der überwiegenden Mehrheit der Abstimmungen über Gesetze weiß niemand genau, wieviele abgestimmt haben, wieviele dafür oder dagegen waren, und wieviele sich der Stimme enthalten haben. Der Sitzungsleiter ruft zur Abstimmung auf, Leute heben die Hand oder stehen auf, der Sitzungsleiter guckt, und stellt Zustimmung oder Ablehnung fest. Das war's. So funktioniert die Gesetzgebung in Deutschland. Da wird nichts aufgeschrieben, nichts nachgehalten, nichts überprüft, nichts notiert. Übrigens, auf meine ungläubige Nachfrage machte man mir Hoffnung. Es gibt doch eine Möglichkeit festzustellen, wieviele anwesend waren: Seit ein paar Jahren gibt es Videoaufzeichnungen von den Abstimmungen. Die kann man sich anschauen und die anwesenden Leute zählen. Manchmal auch, wieviele wie abgestimmt haben.

Die wesentliche, höchste, hoheitliche Aufgabe des Abgeordneten ist die Wahrnehmung seiner legislativen Funktion. Seine Mitwirkung an der Gesetzgebung. So sagt man uns, so lernen unsere Kinder das. Dass unser Bundestag bei etwa 3/4 der Gesetzesbeschlüsse noch nicht einmal weiß, wieviele abgestimmt haben, und wieviele genau dafür oder dagegen waren, kann man da gar nicht glauben. Es ist aber so. Scheindemokratie. Die Frage ist, warum ist das so? Meine Antwort: Wenn man nicht weiß, wer wie abgestimmt hat, kann man auch niemanden zur Rechenschaft ziehen.

(c) Foto:Siegfried Baier  / pixelio.de

Die Parteien-Verhinderungs-Strategie

Dieser Beitrag ist Teil 3 von 5 Teilen der Serie Die antidemokratische Parteienoligarchie

308219_r_k_by_hauk-medien-archiv-wwwbayernnachrichtende-alexander-hauk_pixeliode-kleinWer an den Schalthebeln der Macht sitzt, möchte meistens solange wie möglich dort bleiben. Das gilt auch für die Parteien in Deutschland, die in die Parlamente gerutscht sind. Daher haben sie schon früh Regelungen geschaffen, die das Aufkommen neuer Konkurrenten nach Möglichkeit verhindern, aber zumindest erheblich erschweren sollen. Dies geschieht mit vier immer schwieriger zu nehmenden Hürden, die den Weg in die Parlamente für neue und kleine Parteien nahezu unmöglich machen.

1. Hürde - Zulassung als Partei

Nicht jede politische Interessenvertretung wird als Partei zugelassen. Es gibt vielfältige bürokratische und formalistische Regelungen, die zu erfüllen sind. Wer sich nicht mit Staatsbürokratie auseinander setzen möchte, oder grundsätzlich Probleme mit dem Verstehen von Gesetzen, Verordnungen und Formularen hat (die oft scheinbar bewusst so geschrieben und gestaltet sind, dass sie nicht auf Anhieb verständlich sind) scheitert schon hier.

Hinzu kommt, dass ein von den Parteien in den Parlamenten bestimmter Aussschuss mehr oder weniger willkürlich über die Zulassung einer politischen Vereinigung als Partei befinden darf. Das ist in etwa so, als würde ein von Esso, Shell, Aral und BP gebildetes Gremium darüber entscheiden, ob ein Wettbewerber im Markt für Raffinerieprodukte zugelassen werden darf. Darüber hinaus gibt es kaum harte Kriterien, die eine zwingende Zulassung als Partei zur Folge haben, sondern insbesondere bei in keinen Parlamenten vertretenen (neuen) Kleinparteien ist dies eine subjektiven (und den Interessen der etablierten Parteien dienenden) Einschätzungen und Bewertungen folgenden Entscheidung der Ausschussmitglieder überlassen.

Den Kleinparteien, die in der Regel nicht über üppige Finanzmittel verfügen, steht natürlich der Klageweg offen, bis hin zum Bundesverfassungsgericht.

2. Hürde - Zulassung zur Wahl

Wer diese Hürde geschafft hat, sieht sich aber direkt der nächsten gegenüber: Die Erlaubnis, sich als Partei zur Wahl stellen zu dürfen. Es ist nicht so, dass man sich als Partei formgerecht konstitutieren kann, und dann auch gleich an Wahlen teilnehmen dürfte. Diese Hürde ist die komplexeste von allen, weil eine Vielfalt von Voraussetzungen erfüllt werden müssen. Zuerst muss man Unterschriften einsammeln. Das klingt einfacher als es ist, weil dies öffentlich beglaubigte Unterschriften sein müssen. Für eine Europawahl bundesweit 4.000 Stück, das ist ja noch einfach. Für eine Bundestagswahl bereits mindestens ca. 20.000 Unterschriften. Für Landtagswahlen müssen 1% der Wähler des Landes (maximal 2.000) der Partei mit ihrer Unterschrift die Zustimmung geben. Diese Vorschrift gilt (natürlich) nicht für die Parteien, die bereits in einem Parlament vertreten sind - also für diejenigen, die neue Konkurrenz um Wählerstimmen vermeiden möchten.

Hat man diese Unterschriften gesammelt, dann entscheidet der Wahlleiter noch nach ebenfalls nicht ganz klaren Regeln, ob man denn wirklich als Partei tätig ist, ob man genug Mitglieder hat (nach letzten Entscheidungen scheinen es derzeit um die 400 zu sein, die man mindestens benötigt), ob man öffentliche Parteiarbeit leistet, oder ob man ernsthaft an der Mitwirkung bei der Regierung des Landes interessiert ist.

Erst wenn man genug Unterschriften hat und zusätzlich die Zustimmung des zuständigen Wahlleiters bekommen hat, darf man auf die Wahlzettel. Und da gibt es auch noch weitere bürokratische und formalistische Fallstricke bei der Bestellung von Wahlkreiskandidaten und dem Aufstellen von Landeslisten.

3. Hürde - Parteienfinanzierung

Jetzt muss die Partei in den Wahlkampf, und hat dafür nur Geld aus den Mitgliedsbeiträgen der wenigen Parteimitglieder und der einen oder anderen Spende. Mit diesem Budget muss die Partei antreten gegen Organisationen, die mit Millionenbudgets ausgestattet sind, überwiegend aus Staatskassen und aus Spenden der Organisationen, deren Interessen sie vertreten (sollen). Mit viel idealistischer Arbeit und Aufopferung muss die kleine Partei aus eigener Kraft erreichen, zumindest 0,5% der abgegebenen Stimmen bei einer Bundestagswahl oder 1% der Stimmen bei einer Landtagswahl den etablierten Parteien abzutrotzen, während die etablierten Parteien ihre Wahlkämpfer so gut bezahlen können, dass diese Wahlkampf und Parteiarbeit zum Hauptberuf machen können.

Hier Arbeitnehmer, die ohne Geld neben ihrem Brotberuf ihre Partei bewerben wollen, dort hauptberufliche Menschenfischer in großer Zahl, die auch noch aus Geldern bezahlt werden, die zu einem erheblichen Teil von den Steuerzahlern stammen. Sollte man trotz dieser eklatant ungleichen Chancenverteilung es dennoch schaffen die 0,5% oder 1% Grenze zu nehmen und damit in die Parteienfinanzierung zu gelangen, kann man beginnen, sich der letzten und schwierigsten Hürde zu widmen.

4. Hürde - Die 5%-Klausel

Bekannterweise muss man als Partei mehr als 5% der abgegebenen Stimmen erreichen, um in ein Parlament einziehen zu können. Eine kleine Partei hat es dadurch doppelt schwer, weil sie halt nicht nur soviele Menschen von ihren Konzepten überzeugen muss, sondern vor allem auch davon überzeugen muss diese Partei zu wählen, auch wenn die abgegebene Stimme dann womöglich politisch verfällt, weil sie einer Partei gegeben wird, die mit einiger Wahrscheinlichkeit sowieso nicht in das Parlament gewählt wird. Es gibt übrigens einige Diskussionen, dass diese Regelung dem Demokratieprinzip widerspricht und damit verfassungswidrig ist.

 

Diese Taktik hat Methode: Sie soll es kleinen und neuen Parteien so schwer wie möglich machen politische und parlamentarische Bedeutung zu erlangen. Sie verhindert Vielfalt in der Demokratie, und schützt die herrschende Parteienoligarchie vor Wettbewerb.

Foto (c) Alexander Hauk / pixelio.de